Vor drei Wochen sind wir in Barcelona gesessen, genau an jenem Tag, an dem das katalonische Parlament den Weg geebnet hat für das Unabhängigkeitsreferendum. Auf einer terraza haben wir café solo und cerveza getrunken und uns mit einer Freundin über die Unabhängigkeitsbewegungen und -bestrebungen Kataloniens unterhalten. Traurig ist sie gewesen, unsere Gesprächspartnerin, ja, und bestürzt über die zunehmende Polarisierung, die keine Zwischentöne, keine abwägenden und auslotenden Argumente mehr zuließe: Entweder bist Du für ein nationalstaatliches Katalonien, oder Du bist eine Verräterin, eine Neo-Faschistin.
Dass sich die Gründung eines neuen Nationalstaates weder mit ‚klassisch‘ linken noch mit anarchistischen Positionen plausibel behaupten lässt, habe in den Diskussionen in autonomen und marxistischen Kreisen kaum mehr eine Rolle gespielt. Autonomie um jeden Preis, auch um den Preis der Etablierung eines Nationalstaates, der keine Chance hätte, jemals in die EU aufgenommen zu werden (Spanien würde das nicht zulassen und für die Aufnahme neuer – ja, noch immer: Nationalstaaten… bedarf es der Einstimmigkeit der Mitgliedsländer) und der von einer Regierung gelenkt würde, die in den letzten Jahren drastische Einsparungen in sozialen und bildungspolitischen Bereichen (etwa die Erhöhung der Studiengebühren auf einige tausend Euro) beschlossen hat. Diese Regierung soll ein neues sozialistisches Utopia namens Cataluña realisieren, ohne Möglichkeit, auf europäischer Ebene zu agieren? Wir sind ausgesprochen skeptisch…
Zwei Wochen später ist das eingetreten, was unsere Freundin vorhergesagt hat: Das spanische Verfassungsgericht hat das Referendum „vorläufig ausgesetzt“, was soviel bedeutet wie – hat es untersagt. Die von der konservativen, mit alten und neuen Faschist_innen bestückte spanische Regierungspartei PP (Partido Popular) hat – ohne Zustimmung des Parlaments (die sozialdemokratische Partei hat sich nicht, wie erwartet, enthalten, sondern gegen einen Polizeieinsatz gestimmt) – die Guardia Civil nach Katalonien geschickt, um Mitglieder des katalonischen Parlaments festnehmen zu lassen. Begründet wurde dieses brutale Vorgehen damit, dass die katalonische Regierung die Verfassung gebrochen habe, indem sie auf die Durchführung des Referendums bestehe und alle Vorkehrungen für dessen Umsetzung treffe. Die spanische Regierungspartei PP allerdings hat ebenfalls die von ihr beschworene Verfassung umgangen – sowohl durch den Einsatz der Guardia Civil als auch dadurch, dass der katalonischen Regierung die Finanzhoheit entzogen wurde.
Dass ein Referendum durch Polizeigewalt und Staatsanwaltschaft verhindert werden soll, erinnere an die dunklen Zeiten der Franco-Diktatur, schreibt die Vereinigung "Richter für Demokratie". Tatsächlich hat die post-faschistische Regierungspartei PP durch ihr gewaltsames Vorgehen vor allem ihren – scheinbar – schlimmsten Gegner_innen in die Hände gespielt, den linken und rechten Separatist_innen. Diese können sich nun unisono als Verteidiger_innen ‚der‘ Demokratie inszenieren, ohne dass ihre jeweilige nationalistische bzw. internationalistische Positionierung ins Gewicht fiele.
All die Proteste, die momentan in Katalonien stattfinden und die sich primär gegen den Einsatz der Guardia Civil, gegen die Inhaftierungen sowie gegen die Zensur von Internetseiten, die das Referendum unterstützen (die Sperre der Internetseiten wird in den Sozialen Netzwerken immer wieder umgangen – hier ein Artikel, in dem die Twitterseiten angeführt werden, die über die Möglichkeit, am 01.Oktober zur Abstimmung zu gehen, informieren), richten, versuchen sie, für ihre nationalistischen Agenden zu instrumentalisieren – als ob das demokratische Recht auf Meinungsfreiheit an die Errichtung eines Nationalstaates gekoppelt sei. Ist es aber eben nicht.
Eine Wahl zu haben bedeutet nicht zwangsläufig, sich an einer Staatsgründung beteiligen zu wollen. Die Staatsgewalten – Exekutive und Jurisdiktion – in Spanien gehen sowohl de facto als auch de jure nicht, wie sie behaupten, gegen eine Unabhängigkeitserklärung Kataloniens, sondern gegen das Recht auf Abstimmung vor. Das kehren sowohl PP als auch die separatistischen Parteien geflissentlich unter den Teppich.
In Spanien folgen die Uhren seit der Franco-Diktatur der Mitteleuropäischen Zeit: Franco wollte sich eine Zeitzone mit seinem Verbündeten Hitler teilen. Trotz der absurden Tages- und Nachtzeiten vor allem im Winter (um 16:00 ist es dunkel, während um 04:00 morgens die Sonne aufgeht), hat es bislang keine spanische Regierung geschafft, die Zeitzone zu wechseln. Der Teufel sitzt – nein, nicht nur, aber auch… – im Detail.
Was wäre geschehen, wenn sich die Debatten um eine Unabhängigkeit Kataloniens nicht polarisiert und sich ausschließlich um nationalstaatliche Aspekte konzentriert hätten? Was, wenn Unabhängigkeit und Autonomie nicht als ausschließlich staatstragend betrachtet worden wären, sondern es eine Öffnung hin zu der Möglichkeit einer post-nationalen Föderation gegeben hätte? Beispielgebend für eine post-nationale Entwicklung in Europa? Was, wenn die Regierungspartei das Referendum nicht mit aller Gewalt auszusetzen versuchen würde, sondern, wie damals die kanadische Regierung in Quebec, zulassen würde, dass über Unabhängigkeit von einem Nationalstaat abgestimmt werde?
Wir wissen es nicht, aber es scheint höchste Zeit, die Uhren in Spanien umzustellen…
Bis nach Österreich kamen diesen Sommer die Nachrichten über die Städte, die in den Touristenströmen versinken. Barcelona, Rom, Dubrovnik... Und wer als Tourist_in durch die Straßen von Barcelona läuft, merkt sofort: Hier ist eine_r nicht allein. Tausende zwängen sich durch die Gässchen von El Gotico (die Altstadt) und Hunderte durch das Viertel El Raval – einst ein Arbeiter_innen- und Hafenviertel. Mit Varietés, Bordellen und schummrigen Bars. Eng wurde hier gebaut und hoch, weil immer mehr Menschen angezogen von der Arbeit in Stadt gingen. Hier standen die Fabriken und Webmaschinen, die Barcelonas Reichtum im 19ten Jahrhundert begründeten und hier wurden auch die ersten Arbeiter_innenclubs und dann Gewerkschaften gegründet.
Die CNT, die alte anarchistische Gewerkschaft, die im Sommer 1936, als in Spanien der Bürgerkrieg tobte und in Barcelona die soziale Revolution ausgerufen wurde, hatte hier ihre größte Anhänger_innenschaft. Von diesem Viertel aus, wurden von der CNT auch ihre ersten Streiks organisiert u.a. gegen ein Energieversorgungsunternehmen, das im Volksmund 'La Canadiense' genannt wurde.
Es war im Jahre 1919 und es begann recht harmlos. Ein paar Buchhalter_innen kritisierten ihre Lohnkürzung (bei gleichbleibender Arbeitsleistung) und wurden gekündigt. Daraufhin begann ein Solidaritätstreik, der die Wiedereinstellung zum Ziel hatte. Der Chef zeigte Härte, andere Abteilungen schlossen sich dem Streik an und plötzlich waren 70% der Industrien in Katalonien lahm gelegt und die Forderungen gingen um einiges weiter: Die CNT-Gewerkschaften forderten die Einführung des Achtstundentages, halbtags frei an Samstagen, Anerkennung der Gewerkschaft, Abschaffung der Akkordarbeit, volle Auszahlung des Wochenlohns bei Ausfällen nach Unfällen und das Verbot der Kinderarbeit. Der Generalstreik war erfolgreich und gilt bis heute als einer der erfolgreichsten Streiks der spanischen Geschichte. Zur Bekämpfung der Aufmüpfigen und der organisierten Arbeiter_innen engagierten die Unternehmer Pisteleros. Am 10. März 1923 erwischte es Salvador Seguí, einen der bekanntesten Köpfe der CNT. An der Ecke im El Raval Viertel, wo er erschossen wurde, hängt heute eine kleine Tafel, auf der die CNT allerdings nicht erwähnt wird.
Geht man ein bisschen weiter, erstreckt sich die neue Rambla del Raval. Sie ist ein breiter Boulevard mit Terrassen von Cafés und Bars, auf denen es sich gemütlich Bier und Kaffee trinken lässt. In mitten des engen Gassengewirrs von El Raval stellt sie eine breite, luftige Oase dar, die 1995 buchstäblich aus dem Barrio, dem Viertel, herausgesprengt wurde. Zwei ganze Häuserzeilen haben dieser Rambla weichen müssen. Die Menschen, die in diesen Häusern gewohnt haben, haben entweder in den ohnehin schon äußerst dicht besiedelten anderen Teilen des Viertels Wohnungen finden oder an die Ränder der Stadt übersiedeln müssen. Zwei weitere Bauwerke, die zur so genannten Neubelebung des Viertels beitragen, die also andere Menschen als die vorwiegend migrantische und einkommensschwache Bevölkerung anlocken sollen, sind die Filmoteca und das Museum für zeitgenössische Kunst (MACBA). Auf dem Vorplatz des Museums rattern Jungs und ein paar Mädchen auf ihren Skateboards herum.
Der Garten Ágora, ein von lokalen Aktivist_innen erkämpftes Abbruchterrain, ist eine Oase der anderen Art: Der Baugrund, der nach dem Abbruch eines Hauses entstanden ist, wurde der Stadtregierung durch zahlreiche Proteste innerhalb des Viertels abgetrotzt und stellt heute einen offenen Raum fürs gemeinsame Garteln, Lesen, Singen und Spielen dar. Außerdem erinnert der Garten, der mit seinem vollen Namen Ágora de Juan Andrés heißt, an jene Gewalt, mit der die Polizei immer wieder gegen Einwohner_innen von El Raval vorgeht. 2013 wurde Juan Andrés Benítez von Polizist_innen zu Tode geprügelt.
Barcelona zählt mit fast 16.000 Einwohner_innen pro Quadratkilometer zu den am dichtesten besiedelten Städten der Welt (Kalkutta rund 24.000, Paris rund 21.000, New York City rund 11.000, Wien rund 4.500). Die Wohnsituation hat sich aufgrund der
hohen Nachfrage – viele kommen nach Barcelona, um zu arbeiten, vor allem während der Tourismussaison; viele Wohnungen bleiben als Tourismuswohnungen, Stichwort: Airbnb, kurzfristigen und viel profitableren Mieter_innen vorbehalten – aber auch im Zuge der Finanzkrise verschlechtert. Im Schnitt finden in Barcelona täglich (!) zehn Zwangsräumungen statt. Die Plattform PAH (Plataforma de Afectados por la Hipoteca, Plattform der von den Hypotheken Betroffenen) hat sich 2009 als Bürger_inneninitiative gegründet, um Zwangsräumungen und -versteigerungen zu verhindern. Der dezentral in den verschiedenen
Vierteln der Stadt organisierten Plattform gelingt es, bei anstehenden Zwangsräumungen jeweils mehrere hunderte Menschen zu mobilisieren. Angesichts der hohen Anzahl von Zwangsräumungen besteht eine weitere Taktik der PAH-Aktivist_innen auch darin, Wohnungen für die Betroffenen zu besetzen.
Mit Ada Colau ist seit 2015 eine PAH-Aktivistin Bürgermeisterin von Barcelona. Sie setzt sich für eine ausgeglichenere Wohnungspolitik und einen besseren sozialen Umgang mit Refugees ein. Aber auch sie muss, wie wir von verschiedenen Seiten zu hören bekommen, Kompromisse mit bestehenden Ordnungen und althergebrachten Stadtpolitiken finden.
Barcelonas große Strategie hieß Olympia um ihre muffigen Plätze und armen, dicht verbauten Viertel "Tourismusfit" (siehe: NeoNeuroliberallinguistik) zu machen. 1992 veranstaltete sie die Olympischen Spiele und seitdem setzt die Stadtregierung voll auf diese geldbringende Karte. Ein schön gelegener Hafen für die Kreuzfahrtschiffe, an jeder Ecke ein Hotelchen und die restlichen paar Tausend werden privat untergebracht. Das Graffito "Tourist go home" auf der Decke der Herrentoilette einer Tabas Bar ist nachvollziehbar. Aber auch ein wenig undurchdacht. Tourists always go home. They come and go. Aber es ist vollkommen klar. Eine jede Stadt verträgt nur einen gewisse Dosis an Tourismus. Dann kippt sie, bekommt eine Art Urban Thrombosis.
Barcelona ist in genau diesem Kippstadion.
Eines der größte Probleme der Stadt sei also auch, so eine langjährige Bewohnerin, dass sich die meisten Menschen oft nicht länger als maximal ein paar Jahre hier aufhielten (Stichwort: Erasmus) und sich demnach nicht wirklich mit der Stadt und ihrer Entwicklung auseinandersetzten. In diesem Sinne besteht das Problem von Tourismus eben genau darin, dass Tourist_innen wieder nach Hause gehen – nachdem sie sich ein paar Tage oder auch Wochen lang auf Kosten der Stadt und ihrer Bewohner_innen vergnügt und sich dabei so benommen haben, wie sie es ‚zu Hause‘ niemals tun, niemals wagen würden.