Vorsatz:
Die Ereignisse, die unsere Zeit so gut tragen und ihr Bestand verleihen, scheinen mit ihrer Menge, meist medial vermittelt, diese Zeit unaufhörlich zu verdichten. Ein ganzes Universum an Ereignissen und Geschehnissen, die gepresst und verkürzt herum schwirren und so eine Gegenwart bilden, in der diese Zeit kaum mehr Bestand hat. Geschichte(n) wird/ werden ein von Historiker_innen freigeschaufeltes Wegelchen, auf dem ein Ausflug in die Vergangenheit gewagt werden kann.
Was passiert ist?
Hier im Osten von Kuba in der Ortschaft Baracoa ist ein Ereignis, das im letzten Jahr in Europa kurz für Aufsehen gesorgt hat, immer noch sichtbar. Mathew.
Ein starker Hurrikan, der ähnlich wie Irma im diesen Jahr weite Landstriche zerstörte. Schon bei der Anfahrt durch die tief grünen Berghänge und Hügel, entlang deren Flussfurchen wurde sichtbar, wie dünn bewaldet einige waren. Grünes Buschwerk, kleinere Bäume und vereinzelt ragten Königspalmen in die Höhe. Als hätte ein/e hippe Landschaftsfriseur/in dieser Gegend eine modische Fransenfrisur verpasst. Da Hurrikans und ihre Zerstörung hier ein wiederkehrendes Gesprächsthema sind, ahnten wir schon, wer diesem Teil Kubas seinen Schnitt verpasst hatte.
Über unseren Vermieter einer Privatunterkunft – einer casa particualar – erfuhren wir, dass es in der Ortschaft auch einen Radverleih gibt. Wir ließen uns welche reservieren und holten sie am nächsten Morgen ab. Wir fuhren bei der naheliegenden Schokoladenfabrik vorbei, die Gegend ist bekannt für ihre Kakaoanbau – aber auch für Kokos und Kaffee – und machten schließlich an einer Finca nahe dem Toafluss Halt. Dort wurden wir gefragt, ob wir eine Bootsfahrt machen wollen, die auch eine kleine Tour durch die Flussinsel beinhaltet. Da wir Ähnliches sowieso vor hatten, sagten wir zu und stiegen ins Boot.
Aufgrund der starken Regenfälle der letzten Tage war der Fluss stark angestiegen und das Wasser hatte nicht die sonstige Klarheit, sondern war braun gefärbt vom Erdreich. Die Strömung war stark, deswegen ruderte einer unserer Begleiter seitlich dem Ufer entlang hinauf.
Auf der Insel angekommen zeigte uns der Guide zunächst eine paar Heil- und Fruchtpflanzen – von Salbei bis zu den verschiedenen Mango- und Orangenbäume, er zeigte uns Sträucher, Blüten und Früchte, die wir noch nie zuvor gesehen hatten. Verschiedene Namen huschten vorüber, die nicht für unser Gedächtnis, sondern nur für ein kurzes Aha bestimmt waren. Dann zeigte er auf eine freie, ausgeschabte Stellen – Steine, Erdreich, einige Hölzer und Gestrüpp – er erklärte uns, dass vor einem Jahr hier ein Finca stand. Mathew – ein extremer Wind, heftige Wolkenbrüche und die nachfolgenden Überschwemmungen hätte sie weggespült. Auf unserem weiteren Spaziergang sahen wir dutzende Palmenstämme liegen, vereinzelte Palmenstümpfe ragten in die Höhe. Auch er habe mit seiner Familie hier gelebt, erzählte er uns, als wir sein Grundstück durchquerten. Sein Holzhaus wurde ebenfalls weggerissen. Er zeigte auf einen Baumstumpf – es ist gutes Bauholz. Fest, widerstandsfähig und biegsam. Von 250 Kokospalmen haben auf dieser Flussinsel nur 50 überlebt – manche stehen buchstäblich windschief in der Landschaft. Zwischen den Stümpfen mit abgerissener Palmenkrone, den umherliegenden Stämmen und den wuchernden Wiesen stehen jedoch überall Jungpalmen, kleine kniehoch gewachsene Pflänzchen. Fünf Jahre dauert es, bis sie erste Kokosnüsse tragen, erklärte uns der Guide. Wir gingen mit ihm zu einem Holzgebäude. Eine überdachte Terrasse, die über eine paar Stufen erreichbar ist. Daneben steht eine kleine Hütte. Das ist sein Lager, sein schattiger Rastplatz an den Tagen, an denen er hier arbeitet. Die Wiederaufforstung ist harte Arbeit und es wird noch Jahre dauern, bis es wieder so wie vor Mathew aussieht. Hinter seinem Grundstück wohnt ein älterer Mann. Wir sahen eine Holzhütte, daneben ein kleiner Stall, Hühner, Gänse, Schweine, die frei herum laufen und natürlich ein paar Katzen und ein friedlicher, schmaler Hund. Der ältere Mann wohnt als Einziger wieder hier auf der Insel.
Auch wenn viel zerstört wurde, sie haben alle überlebt. Sie wurden rechtzeitig evakuiert, erzählte uns der Guide. Auf Grund der langjährigen Erfahrung im Umgang mit Hurrikans gibt es hier auf Kuba ein gut funktionierendes Frühwarn- und Informations-system. Was wir gehört haben, neben Radio und Fernsehen, teilweise auch über SMS.
Nach dem Besuch auf der Insel radelten wir wieder zurück. Auch wenn Mathew viele längst vergessen haben, wir bis zu diesem Zeitpunkt ebenfalls, Irma vielleicht noch einigen in Erinnerung ist, sind ihre Auswirkungen von längerer Dauer. Diese Gegend ist voller Spuren ihrer Zerstörungskraft. Und vor allem, die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass in naher Zukunft ein weiterer Hurrikan diesen Landstrich heimsuchen wird.
Als wir unsere Fahrräder zurückgaben, zeigte uns der Verleiher seine neuen Sportfahrräder, mit Federdämpfung vorne und hinten, Scheibenbremsen und digitalem Anzeigegerät bei der Lenkstange. Diese könnten wir für unseren nächsten Ausflug ebenfalls ausleihen. Kosten aber 15 Euro. Viele Touristen stehen auf solche Fahrräder, erklärt er. Wir sagten, dass die einfachen – Top Trekkingräder – für unsere Vorhaben vollkommen ausreichend seien und erzählten ihm von unseren Eindrücken auf der Insel Toa.
Er zeigte auf das Haus, vor dem wir standen und in dem im Erdgeschoß auf einer Seite seine Fahrradwerkstatt und der Verleih untergebracht ist, und begann zu erzählen, wie hier unten, auf der anderen Eingangsseite die Familie, Freund_innen und Nachbar_innen zusammengekommen seien. Zehn Stunden, von 6 Uhr morgens bis 16 Uhr Nachmittags sind sie dort gekauert, während draußen der Hurrikan dröhnend alles durchbeutelte und der Regen gegen die Häuser peitschte. Furchtbare Angst haben sie gehabt, gebangt und gehofft, dass dass Haus, ein solides Ziegelhaus, hält. Es hat gehalten. Viele Häuser haben ihre Dächer verloren, einige wurden zu Ruinen. Der vordere Teile der Ortschaft am Meer, die Häuser am Malecón wurden überflutet. Der Strom fiel aus.
Drei Wochen gab es hier keinen Strom. Weiter entfernt liegende Ortschaften waren noch länger ohne Strom. Für die Aufbauarbeiten kam Techniker_innen und Material aus den großen Städten, aus Santiago de Cuba und auch aus Havanna.
Bei der Silvester-Familienfeier ein paar Tage später lernten wir eine Frau kennen, die ihr Haus verloren hatte. Sie wohnt jetzt bei ihrer Schwester und deren Familie. „Es ist schwierig“, hat sie gesagt. „Das Leben hier ist schwierig.“
Nachsatz:
Javier, der uns zu dieser Feier eingeladen hatte, meinte: „Hier in Kuba ist die Familie sehr wichtig und der Zusammenhalt. Eine Spiritualität für das Leben, die Natur und dass das Leben mehr ist als Konsum, Konsum.“ Damit wir dies erleben können, habe er uns zu dieser Feier eingeladen. Und wir? Wir haben zumindest soviel getanzt, wie schon seit Jahren nicht mehr.
Zwei schwarze Schweinchen laufen quietschvergnügt herum, wühlen sich durch den Sand und hopsen über umgestürzte Palmenstämme. Eines hat eine oben aufgeschnittene Kokosnuss entdeckt, nimmt sie ins Maul und galoppiert davon, als ob die Große Teufelin höchstpersönlich hinter ihm her wäre. Das andere schaut zunächst verdutzt und nimmt dann die Verfolgung auf. Die beiden verschwinden im Mangroven- und Palmenwald, der die kleine Bucht umgibt.
Wir stehen auf der Playa Maguana, so denken wir zumindest, und außer uns ist niemand da – was bemerkenswert ist für einen Strand, der im Lonely Planet als einer der schönsten frei zugänglichen und also Hotel und Ressort freien Strände Kubas beschrieben wird. Die einzigen Zeug_innen, dass es ab und zu auch Strandbesucher_innen gibt, sind ein paar lose verteilte Holz- und Plastikliegestühle und natürlich der blassgrüne Strohhalm, der aus der aufgeschnittenen Kokosnuss gepurzelt ist, nachdem das Schweinchen mit ihr im Maul davongelaufen ist.
Eine neunzigminütige Fahrradfahrt hat uns hierher, an die Playa Maguana gebracht. Von Baracoa aus circa zwanzig Kilometer gegen Norden führt der Weg vorbei an Flussmündungen und durch Palmenhaine. Befestigt ist die Straße allerdings nur bis zur Toa-Brücke, die Hurrikan Mathew vergangenes Jahr zerstört hat und die bis heute lediglich durch ein Betonprovisorium ersetzt wird, das knapp über die Wasseroberfläche reicht und bei starken Regenfällen entsprechend überflutet wird. An einer stabileren, vor allem höheren Brücke wird gerade gebaut. Wir überqueren den Fluss zusammen mit Baufahrzeugen, Kollektiv-Taxis und Pferdekutschen. Nach der Flusspassage ist die Straße, vermutlich auch wegen des Hurrikan, sehr stark in Mitleidenschaft gezogen: Ein Holterdiepolter über tiefe Schlaglöcher und Schotterstraßen setzt ein und wird von den beiden Trekkingfahrrädern einmal mehr, einmal weniger gut abgefedert.
Wir sind froh, als wir endlich das handbemalte Holzschild Maguana entdecken und biegen bei der ersten Gelegenheit ab hin zum Meer. Hier stehen wir nun, in der kleinen, idyllischen Bucht, die gesäumt ist von dunklen Felsen, an die das türkis- bis tiefblaue Meer brandet. Unsere Anreise ist allerdings nicht unbemerkt geblieben, ein Mann kommt strahlend auf uns zu und fragt uns, was wir gerne trinken würden. „Mojito, Cocoloco, Cuba libre...“ nach einigem Zögern auch „Jugo de Mango“. Wir entscheiden uns für den frischen Mangosaft und lassen uns im Palmenschatten nieder. Am anderen Ende der Bucht entdecken wir ein gelbes Haus, das direkt am Strand liegt. Wir fragen uns, ob in diesem Haus vielleicht auch Zimmer vermietet werden, denn, ach, wer will nicht ein paar Tage an ein einem einsamen, schönen Strand wohnen? Wir fragen uns und schließlich auch den Mann, der uns den Mangosaft verkauft hat. Und ja, bei dem gelben Haus handelt es sich um eine Casa Particular. Wir machen uns gleich auf den Weg um nachzufragen, ob wir uns in ein paar Tagen einmieten können. Und wir haben Glück.
Am ersten Tag des neues Jahres, nach der Silvesterfeier bei der Familie von Javier, ziehen wir in das gelbe Haus am Strand, in dem sich die wahrscheinlich beste aller Schreibstuben befindet. Eingerichtet ist sie mit zwei bequemen, weinroten Sesseln, einem breiten Tisch, von ihr aus kann der Blick über die Bucht, das türkisblaue Meer und die Mangroven- und Palmenwälder schweifen.
Die darauffolgenden Tage sind eingebettet in einen wundervollen Rhythmus, getaktet durch die Schreib-, Bade-, Ess- und Trinkzeiten. Wir arbeiten an unseren Romanen, liegen und sitzen am Strand, verspeisen alle möglichen Meerestiere und -früchte, trinken Mojitos und Cocolocos – das sind mit Rum gefüllte Kokosnüsse, die wir, nachdem sie leer getrunken sind, mit der Machete aufschlagen (nein, nicht mit einem Schlag, sondern mit drei, vier, fünf…) und an die Schweinchen verfüttern. Wir sind umgeben von Sonne, Meer, schwarzen und braunen Schweinen, die alles fressen, was auf unseren Tellern übrig bleibt, von gockelnden Hühnern und blökenden Schafen. Wir unterhalten uns mit unseren Vermieter_innen, tratschen und trinken mit zwei anderen Strandbesucher_innen, die sich hier auch für ein paar Tage angesiedelt haben.
Angesichts dieser so schön getakteten Tage macht es uns auch gar nichts aus zu erfahren, dass wir uns eigentlich gar nicht an der berühmten Playa Maguana aufhalten, sondern in einer kleineren Bucht davor, in der so genannten Playa Pequeña de Maguana. Das bekommen wir aber erst am dritten Tag unseres Aufenthaltes mit, als uns unsere Strandgenoss_innen eher beiläufig erzählen, dass der große Strand so anstrengend sei, da ihnen viele dort etwas andrehen wollten. „Welcher große Strand?“ wollen wir wissen, die beiden sehen uns etwas seltsam an und meinen: „Na die Playa Maguana natürlich.“
Erst an einem der letzten Tage unseres Aufenthaltes machen wir uns auf den Weg zum großen Strand, zur tatsächlichen Playa Maguana. Wir werden allerdings kaum angesprochen, denn an diesem Tag regnet es und es werden keine Strandbesucher_innen, denen sich etwas verkaufen ließe, erwartet. Der Strand ist auch sehr schön, weitläufig und führt direkt ins offene Meer. Wir trinken auf einer mit Palmblättern überdachten Terrasse Kaffee. Der Restaurantbetreiber erzählt uns, dass er das Geschäft zusammen mit seiner Mutter betreibt, die neben uns an ihrer Singer-Nähmaschine sitzt und Kleidung ausbessert. Ihr Haus, in dem sie wohnen, in dem sie für Gäst_innen kochen und in dem sie später auch Tourist_innen unterbringen wollen, ist blau gestrichen und liegt direkt am Strand.
Während unserer Strandschreibtage tauchen immer wieder Fragen nach Lebensweisen, nach weisen Arten zu leben auf. Sie tauchen auf wie die großen, bunt schillernden Fische, die dicken, zwei Meter langen Muränen, die mit Harpunen aus dem Meer herausgeholt, zum Häuten und Trocknen am Strand aufgehängt werden. Ausgenommen und köstlich zubereitet sind auch sie sehr gut verdaulich, diese Fragen, die sich aber, wenn eine_r ihnen auf offener See begegnet, ganz anders stellen, beweglicher und angriffslustiger sind. Die Menschen, die hier an den Stränden leben, vermieten ihre Häuser, harpunieren Meerestiere, die sie dann für uns Tourist_innen zubereiten, sie nehmen lange, anstrengende Fahrzeiten auf sich, um in die Schulen und Städte zu kommen, sind Wirbelwinden und anderen Wetterlagen ausgesetzt, die durch viel aufwendigere Lebensstile in anderen Erdteilen verursacht werden, sich hier aber unmittelbar niederschlagen.
Wir verlassen unsere Playa Pequeña bei strömendem Regen, im Gepäck befinden sich Kokosnüsse, ein Abschiedsgeschenk unseres Vermieters, und viele neue Romanseiten. Wir schlichten uns in einen Jeep, der uns als Kollektiv-Taxi in die nächste Stadt bringen wird. Dort steigen wir um in einen anderen Jeep, der, bevor er uns an unser Ziel, nach Holguín bringen wird, zuerst nach Guardalavaca fährt, in eines der Hotel- und Ressortparadiese der Insel – das ursprünglich gebuchte Auto ist voll, so gesteckt voll, dass sich wirklich keine weitere Person mehr hinein schlichten lässt. Wir holpern also hinauf nach Guardalavaca, auf der Ladefläche eines notdürftig überdachten Jeeps, es zieht, an allen Ecken und Enden spritzt Regenwasser hinein. 200 Kilometer weiter als geplant fahren wir so durch den Regen. Nein, nicht alle Umwege sind schön oder lehrreich…