Wir wachten morgens auf und hatten beide die Nase plötzlich gestrichen voll. Jeden Abend Tapas, Cervezas und im Fernsehen eine dieser südamerikanischen Soap Operas, deren Folgen sich bereits im vierstelligen Bereich bewegten. Das ist kein Leben.
Später, wir saßen bereits in unserem trostlosen Eckcafé in der heruntergekommensten Straße des schäbigsten Viertels Valencias und schlürften unseren Café Solo oder wie sie diese lauwarme dunkle Flüssigkeit auch immer bezeichneten. Hinter uns ratterte ein Spielautomat, die Wirtin blätterte fluchend in einer Zeitung und ein älterer Herr versprühte den Charme einer durchzechten Nacht, als er an uns vorbei wackelte.
Unsere Reise hatte so gut begonnen. Wir waren flott unterwegs, aßen in den feinsten Restaurants, genossen die Terassen-aussichten der Innenstadthotels, fuhren mit Taxis unsere Besichtigungstours doch irgendwann hatten wir plötzlich einen Durchhänger. Es lief nicht mehr.
Wir blickten einander an.
„Komm lass es uns tun“, sagte sie zu mir.
Ich zwinkerte ihr zu.
Dann stand sie auf, schnippte der Wirten eine zwei Euro Münze zu und rief:
„Hasta luego. Komm chico, holen wir uns das schöne Leben zurück.“
Ich trank den letzten Schluck, stieß lässig ein „buena vida“ hervor und folgte ihr.
Draußen gingen wir ein paar Schritte die Straße hinunter und sahen plötzlich diesen schneeweißen kleinen Flitzer am Straßenrand parken.
„Hast du auch dasselbe Gefühl“, fragte ich.
„Mich juckt die Logik“, sagte sie kühl. „Komm‘ den machen wir.“
Ich holte meine optische Sonnenbrille hervor, wechselte die Brillen, stellte mich cool neben das Auto und checkte die Straße ab.
***
Während er mir den Rücken deckte, holte ich meine Handy hervor und öffnete die App, mit der ich meine Heizung zuhause reguliere. Die neuen Autos funktionieren alle auf einer ähnlichen Signalebene. Wer weiß wie, für den ist ein Smartphone ein Schlüsselbund, dicker als der von jeder Schulwartin.
Ich stellte die Heizungssteuerung auf „irregular Signal“, schob den Regler auf „externe Steuerung“ und drückte die # Taste und schon piepste und blinkte unser Flitzer auf und die Türen waren offen.
„Lass mich fahren“, meinte er, schwang sich sogleich grinsend hinter das Lenkrad. Mir war es egal. Ich drückte auf Heizung ein – okay – und der Motor startete. Noch ehe ich die Beifahrertür geschlossen hatte, stießen wir mit quietschenden Reifen schon aus der Parklücke. „Wer sich mit der neuesten Technik auskennt, ist immer klar im Vorteil“, meinte ich, während er in die dritte hoch schaltete. „Heutzutage ist alles vernetzt, alles hängt zusammen, man muss nur wissen, welcher Pfad wohin führt und mit welchem Schlüssel man die gewünschten Türen öffnet. Er lächelte nur, zog auf die linke Spur und preschte die Hauptstraße entlang.
Während er fuhr, musste ich aufpassen, dass meine Heizung zu Hause nicht zu sehr erhitzte. Denn Auto und Heizung waren jetzt dummerweise gekoppelt. Je schneller wir fuhren, desto stärker wurde meine Wohnung geheizt. Die moderne Technik hat eben auch ihre kleinen Fehler und Macken. Noch blöder war, dass ich ein Sicherheitsventil eingebaut hatte, dass die Heizung bei Überhitzen ausschaltete, was bedeuten würde, dass der Motor ebenfalls abgedreht wird. Doch noch war alles im grünen Bereich. Wir fuhren mit 80 die Straße entlang und die Wohnung wurde langsam lauwarm.
***
Plötzlich schrie sie: „Da vorne – fahr rechts ran – bist du blind – siehst du sie nicht!?!?“
Ich war zunächst verwirrt, doch dann erkannte ich das fette, blinkende Schild „Banca“. Ich hupte, schnitt zwei Spuren nach rechts. „Okay, alles klar. Ich schmeiß uns an den Gehsteigrand, wir gehen rein und machen unser Ding.“
Unser Lebenswandel der ersten Wochen hatte einiges an Geld gekostet. Hafenrundflug in Marseille. Boutiquenhopping in Barcelona, inklusive Chauffeur und Limousine und diese ewigen Yachtparties in Valencia. Das schöne Leben ist sauteuer, wenn man kein Geld hat. Und wir hatten keines mehr, wir waren pleite.
Wir hätten auch unsere Freunde anpumpen können, aber Freunde, die selber immer pleite sind, sind mit Geld einfach nicht aufzuwiegen. Wir hätten auch unseren letzten Song an eine große Radiostation verkaufen können und eine Menge Kohle damit gemacht. Aber das ist nicht unser Stil. Sole noir lives on the wild way.
So sind wir einfach. Während sie sich bereit machte und sich die Sonnenbrille ins Gesicht schob, rief ich wie irre:
„Yeah, lass uns die Bank machen!“
***
Wenn es heikel wird, wird er immer etwas überdreht. Aber in den entscheidenden Momenten ist er hart und immer voll da. Das mag ich an ihm. Ich sagte kühl: „Wir gehen rein. Zeigen ihnen was wir darauf haben, holen uns die Kohle und hauen ab. Okay? Fragen?“
Er stammelte etwas von einem Plan und ich fragte ihn kurz, ob er noch mehr Plan benötige. Während er den Wagen seitlich auf den Gehsteig stellte, sagte ich zu ihm:
„Also kurz. Du hältst sie in Schach, sagst sowas wie – Überfall, Hände hoch – und ich nehm das Geld und wir hauen ab. Klar?“
***
„Klar“, wiederholte ich. Es gibt eigentlich nichts einfacheres als eine Bank auszurauben. Und mit ihr war es ein Kinderspiel. Sie konnte sehr ernst sein, geradezu verspielt ernst, doch wenn es darauf ankommt, gab es niemanden, der brutaler war als sie. Sie schaltete die Heizung auf stand by, wir schlugen die Türen hinter uns zu und stürmten in die Bank. Im Schalterraum blieben wir kurz stehen. Sie nickte.
„Hände hoch!“ schrie ich aus vollem Hals.
Einige drehten sich zu uns um und schauten uns an. Ich wiederholte, nun noch lauter.
„Hände hoch! Überfall.“
Gemurmel am Schalter. Eine Dame im Kostüm, offensichtlich von der Bank, bewegte sich freundlich auf uns zu.
***
„Auf Spanisch. Du musst es auf Spanisch sagen,“ rief ich ihm zu. „Uns versteht hier ja kein Trottel.“
***
Auf Spanisch dachte ich mir. Was heißt denn jetzt Hände oder Arme verdammt noch mal auf Spanisch und dann noch hoch? „Machen wir es international“, rief ich ihr zu und schrie sogleich:
„Hands up!“
Und führte es zur Veranschaulichung gleich mal vor.
***
So stand er nun mit gestreckten Armen vor dem Bankschalter, schrie hands up! und blickte den Beamten grimmig an. Als das noch nicht half, schlug ich mit der Faust mit einer solchen Wucht auf den Schalter, dass es nur so in der Halle donnerte und sich einige ängstlich weg duckten. Die Dame im Kostüm hatte sich erschrocken unter einen Tisch verkrochen.
„Todo dinero y no no todo!“
Der Schalterbeamte schaute verdutzt. Die doppelte Verneinung schien zu funktionieren. Langsam begann er in der Kasse zu wühlen und zog zitternd den ersten 10 Euro Schein hervor.
***
„Todo!“, rief ich nun, streckte ihm meinen Zeigefinger vor das Gesicht und spannte meinen Daumen wie den Hahn eines Revolvers gefährlich nach hinten.
„Todo und no no todo!“
Nun ging alles blitzschnell. Alle Schalterbeamt_innen trugen stapelweise Geld herbei, wir stopften alles zusammen in unsere beiden mitgebrachten Beutel und gingen langsam rückwärts hinaus.
„No Police, claro?!“ schrie sie noch, während ich langsam meinen Daumen wieder einzog und mit meinem Zeigefinger noch etwas bedrohlich herumfuchtelte.
***
Wir liefen zum Auto. Ich drehte die Heizung voll auf, warf ihm meinen Beutel zu und sagte: „Ich fahre.“ Der Motor dröhnte auf, die Reifen quietschten und wir ritten in einem Höllentempo weiter die Hauptstraße entlang.
„Du bist das Fahren gewohnt, ich hingegen seit 10 Jahren nicht mehr hinter einem Steuer gesessen. Auf der Flucht sein heißt kreativ sein. Da darf man sich nicht an das Gewöhnte halten.“ Ich weiß nicht, ob er meiner Logik folgen konnte, denn Rationalität war nicht so sein Ding. „Schau, was machst du, wenn du eine rote Ampel siehst?“ fragte ich ihn, während ich auf das Gas stieg, zwischen zwei Autos durch zog und voll karacho bei Rot in die Kreuzung fuhr. „Du würdest stehen bleiben, weil du blind vor Routine Rot nur als Signalfarbe des Stehenbleibens erkennen würdest. Aber die Roten Fahne der Sovjets, was hat die bedeutet? Vorwärts! Verkehrszeichen, mein chico, und das wissen wir seit der Postmoderne, sind frei interpretierbar. Was ist ein rotes und innen weißes auf den Kopf gestelltes Dreieck? Es ist ein Scheiß-drauf-und-Fahr-einfach. Die Straße gehört dir.“
Doch während ich ihm eine kleine Einführung in die Philosophie der Zeichenwelt hielt, tauchten einige heulende Polizeiautos im Rückspiegel auf.
***
Ich weiß nicht genau, ob ich ihren Ausführungen über die wilde Welt der frei flottierenden Bedeutungen von Zeichen genau folgen konnte, auf jeden Fall schienen mir die Polizeisierenen ein eindeutiges Zeichen dafür zu sein, dass wir uns so schnell wie möglich aus dem Staub machen sollten. Eben hatte sie eine Kurve gerade noch gekratzt, als ich ihr zu rief: „Hinaus, wir müssen hinaus aus der Stadt...“ Sie warf mir einen unvergleichlichen Blick zu, sprang auf die Bremse, riss das Lenkrad um neunzig Grad herum und raste auf die Polizeiautos zu, die verdutzt zur Seite wichen.
***
„Geisterfahrer_innen, ich wollte immer schon einmal eine Geisterfahrerin sein“, rief ich ihm zu und wir rasten die Stadtautobahn in umgekehrter Fahrrichtung hinaus, hinaus aus der Stadt. Begleitet wurden wir von einem wilden Hupkonzert und von den Polizeiautos, die nach der ersten Schrecksekunde wieder Mut gefasst hatten und sich an unsere Fersen hefteten. „Verdammt“, sagte ich zu ihm mit einem Blick auf den Tacho, „verdammt, wir fahren jetzt einhundertsiebzig, meine Heizung zuhause muss auf Hochtouren laufen. Wenn wir nicht aufpassen, explodiert sie!“
***
Einen kurzen Augenblick lang erinnerte ich mich an ihre Wohnung und stellt mir vor, wie alle Sachen darin vor Hitze glühten und aus dem Badezimmer ein lautes Stampfen zu hören war. „Übernimm Du mal kurz“, mit diesen Worten riss sie mich aus meinen Erinnerungen. Ich fasste mit beiden Händen das Lenkrad, während sie auf ihrem Handy hantierte. „So, jetzt sind die Heizung und das Auto voneinander entkoppelt, ich hab schnell einen Auto-nomy-Modus programmiert.“ Die großen Wohnblöcke, die Super- und Hypermärkte rasten an uns vorbei. Ein sicheres Zeichen, dass wir den Stadtrand erreicht haben, dachte ich mir und warf ihr verstohlen einen Blick zu: Na ja, es müssen ja nicht immer frei flottierende Bedeutungen sein.
***
Raus, raus aus der Stadt sind wir und diese Scheißkiwara sind immer noch hinter uns her. Sind die nicht von der Stadtpolizei und dürfen gar nicht…? Ach was, wir sollten in die Berge fahren… „Wir sollten in die Berge fahren, dort können wir uns verstecken,“ meinte er in eben diesem Moment. Ach, was sind wir für ein gutes Team, ich küsse meinen chico schmatzend auf die Wange – scheiße, das war knapp, da war ein LKW vor uns, oder vielmehr gegen uns.
***
Wir bretterten die Landstraße entlang, quietschten um die Kurven, die immer abschüssiger wurden, rechts von uns gähnte ein Abgrund herauf, dann kam ein schmale Brücke, immer weiter stießen wir in eine Landschaft, die uns an die kroatische Winnetou-Landschaft erinnerte, Sträucher, Pinienbäume und Felsen, braun, grün und grau. Als hätte Karl May uns in einen Science Fiction Western des 21. Jahrhunderts gesetzt. Hinter uns eine dröhnende Polizeimeute und wir ritten eine immer schmäler werdenden Straße hinauf, vor uns sahen wir bereits die weißen Häuser der nächsten Ortschaft, durch die wir wieder mit gut 100 Sachen sausen würden, so dass die Bewohner_innen glaubten, wir wären ein weißer Turbogeist.
Doch plötzlich, vor der Ortseinfahrt, eine Straßensperre.
***
Scheiße. Eine Straßensperre. Ich riss das Lenkrad herum und wir polterten durch Landschaft, Sträucher, Kakteen, alles flog an uns vorbei. So etwas Ähnliches wie ein Weg zeichnete sich vor mir ab. Ein Strampelpfad, der immer steiler nach unten führte. Im Rückspiegel sah ich, wie sich ein Polizeiauto bereits überschlagen hatte und hinter uns her rollte. Plötzlich öffnete sich uns der freie Himmel. Hier war keine Straße mehr, kein Weg, kein Hang. Vor uns zeigte sich ein Abgrund. In dem Moment donnerte das Auto gegen eine Holztafel. Meine Stirn schlug gegen die Windschutzscheibe.
Ahh-au. Verdammt.
***
Ich schlug mit dem Kopf gegen die Scheibe. Was für ein Glück. Das Auto stand. Vor uns eine prächtige Holztafel: Buenvenida Parque Natural Chulilla. Mir war schwindelig.
„Komm nimm das Geld. Wir müssen weiter.“
„Weiter?“
„Willst du hier campen und auf die Bullen warten?“
Ich drehte mich um. Hinter uns rollte weiter ein Polizeiauto, dahinter holperte ein zweites auf uns zu. Doch wohin?
„Komm nimm den einen Sack. Wir schauen was unten ist.“
„Unten? Unten bei dem Abgrund? Der Tod nehm ich an...“
***
Ich sagte, dass wir keine Zeit für Späße hätten und schaute nach. Gut 50 Meter. Aber unten war Wasser. Das könnte klappen, dachte ich mir. Ich gab ihm einen kleinen Schupser und sprang ihm nach.
***
Wir hatten es geschafft. Das Wasser war mild, türkis-blau und frisch wie das erste Bier nach dem Aufstehen. Wir hatten es wirklich geschafft.
In dieses Becken waren wir gesprungen und anschließend durch die Höhle links auf die andere Seite des Canyon gestiegen. Kein Mensch weit und breit.
Wir entschlossen uns hier ein Versteck zu suchen und abzuwarten bis sich die Situation etwas beruhigt hatte.
Bitte – wir wissen, dass es gefährlich ist, dies alles öffentlich zu machen. Doch wir machen es aus einem bestimmt Grund. Unsere Freundinnen und Freunde sollen Bescheid wissen, denn wir brauchen eure Hilfe. Falls die Polizei uns finden sollte, brauchen wir ein gutes Alibi!! Wir können uns ja nicht gegenseitig ein Alibi geben, das wäre zu auffällig und sie würden uns nie glauben. Deswegen fragen wir euch, bitte helft uns! Ansonsten sind wir denen ausgeliefert.
Und ihr wisst. Wir haben immer noch zwei Taschen voller Geld und wir würden uns bei der Person finanziell erkenntlich zeigen… :)
Die erste Nacht schliefen wir in einem kleinen Unterschlupf. Ohne Bett und Nachtkästchen. Ohne Pyjama und Flanellleintuch, sondern in verschwitzen Shirts und ein paar Blättern und Ästen. Das war anfangs ungewohnt. Wir hatten ja nichts mit. Zwei Taschen voller Geld und ein Taschenmesser.
Am nächsten Tag gingen wir weiter, immer tiefer in die Schlucht. Teilweise gab es einen Pfad, teilweise mussten wir uns einen Weg durch das stachelige Strauchwerk bahnen. Wir wusste nicht, ob sie uns auf den Fersen waren oder glaubten, wir wären bei dem Sprung umgekommen. Immer rauer und wilder wurde die Umgebung.
Wir hatten uns aber recht schnell zurecht gefunden. Wer in Wien nicht verzweifelt, kommt mit der ganzen Welt klar, haben wir uns gesagt. Und der Unterschied zwischen einem Supermarkt und der Wildnis ist auch nur graduell. Bei beiden brauchst du gute Nerven.
Hier sie beim Fischen.
Er war lecker! Abends gab es Fisch mit Kaktusfeigen.
Wir aßen gut fünfzig Kaktusfeigen am Tag. Mittlerweile störten mich die feinen Stachel auch nicht mehr, die sich auf Lippen und Händen angesammelt hatten. Ich war mittlerweile selbst zu einem Kaktus geworden. Die andere Frucht, die hier massenweise wächst, ist Granatapfel. Also morgens gab es Kaktusfeigen mit Granatapfel und Abends Granatapfel mit Kaktusfeigen. Und hin und wieder Fisch. Ja und natürlich Insekten. Jedoch am meisten sättigte mich der Anblick von den tausenden Euros, die wir erbeutet hatten.
Tage später entdeckten wir eine Höhle, in der wir die nächsten Tag verbrachten.
Hier er beim Feuer Machen, manchmal dauerte es ein wenig – ich muss sagen, unsere Höhle war recht geräumig und von hier aus hatten wir einen sehr guten Überblick.
Wir hatten uns bereits gut auf ein Leben in der Höhle und in den Wäldern der Schlucht eingerichtet. Als ich beim Feigen Sammeln meine neue Goldkette verloren hatte, war mir das vollkommen egal. Ich brauchte sie nicht mehr. Ich brauchte keinen Schmuck, keine elektrische Zahnbürste, ich brauchte überhaupt keine Zahnbürste, was man brauchte, war ein Schluck Wasser am Morgen und ein weiches, großes Blatt für die Toilette. Das war alles.
Wir sind alle mittlerweile so vom Konsum abhängig, dass wir gar nicht mehr wissen, wie einfach das Leben sein kann. Frische Luft und Sonnenschein, mehr braucht man nicht. Natürlich ist ein Smartphone angenehm, zum Fotos und Videos machen und Internet. Klar. Wir hätten das alles nicht schreiben und online stellen können, aber davon abgesehen…
Wir hatten unsere Sache zumindest auf Nichts gestellt. Auf Rien, auf Nada. Wir brauchten nichts mehr. Versucht es auch. Nehmt einen Gegenstand, der euch wichtig ist, der euch alles zu bedeuten scheint, und werft ihn in den Müll. Ihr werdet sofort spüren, wie befreiend das ist.
So dachten wir bereits. Nach nur wenige Tagen in der Höhle. Doch dann holte uns eines Morgens die Realität ein. Hubschrauberlärm weckte uns. Dann hörten wir ein Hundegebell aus der Schlucht empor hallen.
Die Meute war wieder hinter uns her. Wir löschten das Feuer, nahmen unser Säcke voller Geld und machten uns auf die Socken. Wir kletterten die Schlucht hinauf…
und in diese Richtung liefen wir weiter …
Wir hatten sie abgehängt. Die ersten vier Kilometer liefen wir rückwärts, sprangen einen guten Kilometer auf einem Bein und gingen dann einen halben Tag auf Zehenspitzen, deren Abdrücke wie jener von Paarhufern aussahen. Wichtig war es, keine Ästchen der Sträucher abzubrechen oder andere Pflanzen zu knicken. Ich hatte das von Karl May gelernt. Spuren verwischen und falsche Fährten legen. Das sind Grundregeln, wenn man auf der Flucht ist. Wer diese nicht einzuhalten weiß, sollte sich besser sofort bei der Polizei melden. Dass die Hunde unsere Fährte nicht fanden, wunderte mich anfangs. Dann roch ich an ihm, etwas genauer.
Wenn man so eng beieinander ist, fällt es einem gar nicht mehr auf. Aber wenn man täglich 50 Kaktusfeigen isst, bekommt man einen recht merkwürdigen Körpergeruch. Ich wusste das gar nicht. Uns hatten auch keine Mücken mehr gestochen. Nicht einmal Fliegen wagten sich mehr in unsere Nähe. Wie lange wir schließlich unterwegs waren? Ich weiß es nicht mehr. Fragt doch ihn.
***
Wie lange wir unterwegs waren? Genau drei Tage, vier Stunden und fünfunddreißig Minuten. Ich hatte unbeabsichtigt die Stoppuhr am Handy eingeschaltet. Ich bemerkte es, als wir eines Abends vor dieser kleinen Schlucht standen, am Ende einer unfassbar weiten und trockenen Ebene. Wobei es keine richtige Schlucht war, so wie jene, aus der wir geflohen waren, sondern mehr so ein Art Graben. Eine breite Vertiefung mit vielen Seen. Sie wurde plötzlich ganz aufgebracht und redete von irgendwelchen Trugbildern, die vielleicht doch keine waren. Ich dachte mir, es wäre wegen der schönen Landschaft.
***
Es war nicht die Landschaft. Ich erinnerte mich an Cervantes Don Quijote. Der ritt eines Tages durch genau so eine Gegend. Mitten in La Mancha. Es war im zweiten Teil, Kapitel 23. Wenn ich mich nicht täusche… ich hatte vor Jahren das Buch in Original gelesen… dort stand:
"y con Guadiana vuestro escudero, y con la dueña Ruidera, y sus siete hijas y dos sobrinas y con muchos de vuestros conocidos y amigos nos tiene aquí encantados el sabio Merlín a muchos años; y aunque pasan de quinientos no se ha muerto ninguno de nosotros, solamente falta Ruidera y sus hijas, y sobrinas, las cuales lloran, por compasión que debió tener Merlin de ellas, las convirtió en otras tantas lagunas, que ahora en el mundo de los vivos y en la provincia de La Mancha las llaman Las lagunas de Ruidera. Las siete son de los Reyes de España, y las dos sobrinas de la orden de los caballeros &. Guadina vuestro escudero, plañendo asimismo sus desgracias, fue convertido en un río. Llamado del mismo nombre, él cual cuando llego a la superficie de la tierra y vio el sol del otro cielo, fue tanto el pesar que sintió de ver que os dejaba, que se sumergió en las entrañas de la tierra; pero como no es posible dejar de acudir a su natural corriente, de cuando en cuando sale y se muestra donde el sol y las gentes le vean: vanle administrando de agua las referidas lagunas..."
Für mich war klar, wir mussten an einem dieser Seen gelandet sein. Es gab sie also wirklich. Sie waren keine Trugbilder.
Es war unglaublich,
was sie sich alle merken konnte.
Dieses Detailwissen und das unabdingbare Verlangen, sich überall neben dem Punkt
auch noch an den Beistrich erinnern zu können. Mich faszinierte das.
Diese Exaktheit und Strenge,
in der sie ihre Gedanken und Erinnerungen
in Form bringen konnte…
Während sie dieses Zitat aufsagte,
kam sie nicht ein einziges Mal ins Stocken.
Sie redete, als würde es ihr eine unsichtbare Stimme, also eine nicht hörbare Stimme
vorsagen.
Für mich war gar nichts mehr klar. Ich wusste nur, dass ich irrsinnigen Durst hatte und hier eine Menge Wasser war.
Ich fragte ihn, ob er noch nie etwas von Don Quijote gehört hatte. Er schüttelte den Kopf. Sancho Panza? Jetzt lächelte er und nickte. „Sancho Panza. Den kenn‘ ich. Das ist der kleine Dicke mit dem Esel, dem eine Insel versprochen wurde, wenn er bei jedem noch so großen Blödsinn mitmachen sollte.“
Typisch. Den kannte er, aber von Don Quijote wusste er nichts. Das war geradezu beispielhaft für seine Halbbildung, auf die er auch noch stolz war. „Wenigstens die Hälfte kann ich mir merken“, meinte er immer. Manchmal war es auch nur ein Anfangsbuchstabe oder eine Endung… „Wie heißt noch mal diese Krankheit, die wir uns bei dieser Hitze holen werden… ich glaube… nein, ich bin mir sicher, sie beginnt mit L und hört mit ung auf?“
„Lungenentzündung?“
„Ja, ich glaub so heißt sie. Lungenentzündung“, meinte er.
Man muss dazu sagen, wir waren schon gut 40 Stunden unterwegs. Die Sonne schien erbarmungslos auf uns und wir hatten kaum Wasser. Unser Zustand war bestimmt etwas kritisch.
Ich war bereits wie im Traum. Er mehr in Trance.
„Weißt du, dass Don Quijote sich von populären Geschichten, von Rittergeschichten, täuschen und in den Irrsinn treiben ließ? Dass er glaubte, was er las und auch glaubte, was er sah?“
„Tun wir das nicht alle?“, fragte er.
***
Wir schwiegen eine Weile, während wir den Hang hinunter stiegen. Unten angekommen lief ich zum See, wusch mein Gesicht und trank bis mir ganz übel wurde. Sie lag mit ausgestreckten Armen und Beinen im Wasser. Dann ließen wir uns am Ufer nieder und saßen einfach nur da. So als wären wir Randfiguren in einem Video, das in den Tiefen des Internets immer wieder von vorne abgespielt wird, egal, ob jemand zusieht, oder nicht. Und wir sitzen hier und schauen in den See in einem Video in einem See...
Die Wirklichkeit wurde plötzlich ganz weich und verformte sich mit jedem Schritt. Die Bäume und Sträucher am Rande des Sees begannen Falten zu werfen, wie Seidenteppiche im Wind oder wie eine Leinwand, auf die zu viel Ölfarbe aufgetragen wurde.
Mir wurde plötzlich ganz seltsam. Die Hände wurden leicht. Meine Beine auch. Ich musste tanzen. Zumindest glaubte ich, dass ich tanzte. Denn ich hörte Schritte. Meine Schritte, doch irgendwie gehörten sie nicht zu meinem Gehen. Ich ging ja gar nicht, ich tanzte. Warum aber dann dieses Gehen, diese Schritte…
„Irrsinn? Von Geschichten? Glaubst du vielleicht unsere Geschichte ist auch nur ein Irrsinn und wir sind gar nicht auf der Flucht? Sondern wir haben uns nur verlaufen?“
***
Ob wir uns verlaufen haben? Aber nicht doch! Dort drüben ist unser Hotel. Komm wir nehmen uns ein Zimmer und bleiben für eine Nacht.
Möchtest du ein Zimmer mit Seeblick? Ich will auf jeden Fall eins. Oh, schau nur, wie nobel der Eingang ist und die Wände, wie schön sie dekoriert sind.
Wir blieben drei Tage in diesem Hotel. Das Zimmer war ausgezeichnet, die Bedienung ließ manchmal etwas auf sich warten, aber das war egal. Meistens hatten wir es inzwischen selbst erledigt.
***
Sie hatte wirklich eine schönes Hotel gefunden, auch wenn es schon etwas alt war. Ich beschwerte mich nicht über die Flecken auf der Tischdecke und auch darüber nicht, dass bei unserem Fenster die Scheibe schon etwas angekratzt war. Sie konnte da sehr streng sein und mir war es egal. Wichtig ist, dass es überhaupt existiert, dieses vorzügliche Hotel am See, dachte ich mir. Würde es nicht existieren, müssten wir es zunächst einmal benennen, auf dass es exisitiere. Ich hatte viele Jahre lang die schwierigste Philosophie studiert, die Sprachphilosophie. Und die besagt, dass nichts außerhalb der Sprache existiert. Also bedeutet dies im Umkehrschluss, alles existiert in der Sprache.
Dort steht ein Hotel. Nehmen wir uns ein Zimmer.
Ist dieser Satz einmal gesagt, ist es eine Leichtigkeit sich in diesem Hotel eine paar schöne Tage zu machen. Diese Cleverness und Gedankenvielfalt kamen mir in dieser schwierigen Fluchtsituation zu Gute. Ich kann nur jedem raten sich mit Philosophie zu beschäftigen, es zahlt sich auf jeden Fall aus!
***
Nach ein paar Tagen im Hotel gingen wir weiter. Wir wussten beide nicht wohin und so entschieden wir uns die Seen entlang zu wandern. Er redete immer von seinen sprachphilosophischen Sätzen wie:
Gehen wir ans Ziel.
Gehen wir ans Ziel.
Mir ging das schon auf die Nerven. Seine permanente Vereinfachung der Sprachphilosophie.
„Halte bitte endlich deinen Mund!“ Mir tat es im selben Moment schon leid so grob gewesen zu sein. Er hatte sich weggedreht und ging zu einem Felsvorsprung, der den Blick freigab auf den nächsten See. Ich hielt ihn fest, zog ihn an mich und wollte mich schon bei ihm entschuldigen, da riss er sich los und ging ein, zwei Mal um mich herum. Ich folgte ihm mit den Augen, er redete ohne den Mund zu bewegen.
Dann fielen wir beide zu Boden.
„Was hörst du?" fragte er mich.
„Ich höre das Meer rauschen."
„Ja“, sagte er. „Ich auch.“
„Und was siehst du?“, fragte ich ihn.
„Das Meer.“
„Ich auch. Das Meer aus Schilf.“
Dann schliefen wir ein.
Er spürte ein sanftes Wogen, das ihn aus dem Schlaf schaukelte. Weiße Wolkenschleier zogen an ihm vorbei. „Himmel“, rief er, „ich …“ In diesem Moment streifte ihn ein schwarzes Flügelpaar. Erschrocken versuchte er, irgendwo Halt zu finden, doch er griff ins Leere. Er schwebte in einem tiefen Blau, in dem er unten von oben nicht unterscheiden konnte. „Mein Freund“, krächzte es an seiner Seite. Zwei schwarze Augen, klein und rund wie Stecknadelköpfe, funkelten ihn an. „Du bist auf der Flucht und jede Flucht ist auch eine Suche.“ „Ja, eine Suche nach dem besten Versteck.“ Seine Stimme klang gedämpft, wie begraben unter tausenden Wolkenkissen. „Nein, mein Lieber, eine Suche nach einem besseren Ort, einem Ort, an dem du wieder zu Kräften kommen und dich ausruhen kannst“, belehrte ihn der Rabe, der neben ihm herflog. Eigentlich fühlte er sich ausgeruht und bei Kräften. „Nun, ich könnte ja hierbleiben, im Himmel und einfach weiter schweben. Hier fühle ich mich wohl und stark und…“ Der Rabe schüttelte sich vor Lachen, sein Gefieder plusterte sich auf, schwarze Federn tanzten in der Luft. „Du hast doch keine Ahnung, was du da sagst, mein Freund. Der Himmel ist nur die Kehrseite von…“ Er hörte nicht mehr, was der Rabe noch sagte, denn ein Luftstrom hatte ihn erfasst und ihn die Höhe gewirbelt. Wie ein losgerissener Luftballon tanzte er in den blauen Höhen. Als er den Blick hob, sah er über sich ein Bild schweben. Er kniff die Augen zusammen und …
Sie spürte ein sanftes Wogen, das sie aus dem Schlaf schaukelte. Türkise Wasserschlieren zogen an ihr vorbei. „Bei allen Wassern“, rief sie, „ich…“ In diesem Moment streifte sie eine silbrige Flosse. Erschrocken versuchte sie, irgendwo Halt zu finden, doch sie griff ins Leere. Sie schwebte in einem tiefen Blau, in dem sie unten von oben nicht unterscheiden konnte. „Meine Freundin“, blubberte es an ihrer Seite. Zwei wässrige Augen, klar und durchsichtig wie Zwetschken- schnaps, plätscherten sie an. „Du bist auf der Flucht und jede Flucht ist auch ein Suchen.“ „Ja, das Versuchen, nicht erwischt zu werden.“ Ihre Stimmte klang matt und klitschig, wie verschüttet auf glattem Marmorboden. „Nein, meine Liebe, ein Suchen nach einem besseren Ort, einem Ort, an dem du Kräfte sammeln und ausschlafen kannst“, belehrte sie der Fisch. „Na dann könnte ich ja hier bleiben, im See, und einfach weiter treiben. Hier fühle ich mich wohl und stark und…“ Der Fisch schüttelte sich vor Lachen, seine Flossen schwollen an, bunte Schuppen rieselten ins Wasser. „Du hast doch keine Ahnung, was du da sagst, meine Freundin. Der See ist nur die Kehrseite von…“ Sie hörte nicht mehr, was der Fisch noch sagte, denn ein Strudel hatte sie erfasst und in die Tiefe gezogen. Wie ein Kreisel drehte sie sich weiter, immer weiter hinein in die blauen Tiefen. Als sie den Blick senkte, sah sie unter sich ein Bild schweben. Sie kniff die Augen zusammen und…
wir sahen uns an. Er mich von unten, sie mich von oben. Er sah mich im Seeblau schweben und sie mich eingetaucht ins Himmelsblau. Wer befand sich nun unten, wer oben? „Das muss ein Tor sein in eine andere Welt“, flüsterte er.
In diesem Moment hörten wir, wie eine tiefe, feste Stimme sang:
Todas estas cosas
había una vez
cuando yo soñaba
un mundo al revés
„Un mundo al revés“ wiederholten viele Stimmen, Hände klatschten, Gitarrensaiten schwangen sich auf zum Schlussakkord. Wir blickten uns um. Wir hockten auf zwei Barhockern in einem dunklen Raum, in dem viele Menschen waren. Neben einem kleinen Fenster saßen drei Frauen mit ihren Gitarren. An den Wänden hingen alte Filmplakate und Bilder von Rosen in allen Schattierungen dieser Welt. Eine Frau stellte uns zwei Gläser Bier hin.
***
„Wo sind wir hier?“ fragte er die Kellnerin. Ich stieß ihn an. Schließlich sollten nicht alle gleich wissen, dass wir uns – nun, was eigentlich, verlaufen und verloren hatten? Dass wir keine Ahnung hatten, nicht nur, wo wir uns befanden, sondern auch, wie wir hierher gekommen waren? Ein bisschen Würde sollten wir auch in dieser Situation bewahren, fand ich.
***
Ich spürte ihren Ellenbogen in meiner Taille. Was war falsch an meiner Frage? Ah, richtig, ich hatte sie auf Deutsch gestellt und wahrscheinlich verstanden die Menschen auch hier nur Spanisch. Also versuchte ich es noch einmal: „¿Dónde estamos aquí?“ Die Kellnerin lächelte: „Aquí estamos en el bar la Rosa“. Ich wusste nichts darauf zu sagen und lächelte zurück. Die Kellnerin ging wieder hinter die Bar, schenkte drei Gläser voll mit Schnaps und brachte sie den Musikerinnen. „Was hast du vorhin gemeint mit diesem Tor in eine andere Welt?“ fragte sie mich.
***
„Na dass wir, während wir geschlafen haben, in eine andere, in eine verkehrte Welt gewandert oder geflogen sind“, meinte er schon ganz abwesend, denn seine Aufmerksamkeit wurde von einem Mann absorbiert, der gerade dabei war, unter lautem Beifall Gitarren aus Luftballons zu basteln. Die blauen und gelben Luftwürste drehte und verzwirbelte dieser Mann so geschickt, dass am Ende dabei einsaitige Luftballongitarren herauskamen, die tatsächlich auch Töne hervorbrachten.
***
Während sie noch ganz vertieft war in die Betrachtung des Luftballongitarrenbaus, hatte sich eine Frau an unseren Tisch gestellt. „Buenas, me llamo Barbara“, sagte sie und verbeugte sich leicht. „¿Puedo?“ fragte sie und breitete, ohne unsere Antwort abzuwarten, gemalte und collagierte Ansichtskarten auf dem runden Stehtisch aus. Auf ihnen waren Zauberwesen, prächtige Feen, hinreißende Kobolde und wunderschöne Hexen zu sehen. Eine der Karten fand ich besonders interessant.
***
Er starrte unentwegt jene Karte an, auf die ein fliegender Rabe gemalt war. Der Rabe hatte kleine, schwarz funkelnde Augen, die wie Stecknadelköpfe aussahen. Warum er wohl gerade diese Karte so besonders fand, konnte ich mir nicht erklären. Aber Geschmäcker sollen ja verschieden sein…
***
Sie wäre fast umgefallen, wenn ich sie nicht rechtzeitig aufgefangen hätte, so erschrocken war sie über eine der Karten. Auf der Karte, die sie beinahe zu Fall gebracht hätte, war ein stinknormaler Fisch zu sehen, mit wässrigen Augen, die klar und durchsichtig waren wie Zwetschkenschnaps. – Schnaps, ja den konnten wir jetzt gebrauchen, also bestellte ich drei Gläschen für uns.
***
Der Schnaps tat mir gut. Ich sah wieder klarer. Es musste ein Zufall sein, dass Barbara gerade jenen Fisch gemalt hatte, dem ich im See begegnet war. Die Musikerinnen begannen wieder zu spielen, ein einfaches und schönes Lied. Bei einer Textzeile warf uns Barbara einen verschwörerischen Blick zu: „Soy una bruja“, murmelte sie und alle in der Bar sangen „Una bruja hermosa“. Barbara lächelte und sagte: „¡Bienvenido al mundo revés!“ Wir blickten uns an. Willkommen in der verkehrten Welt?!?
„Was ist selbst in einer verkehrt gewordenen Welt verkehrt?“, fragte ich ihn.
„Zu lügen?“
„Aber nein. Manchmal hast du wirklich die Vorstellungskraft von einem pensionierten Religionslehrer einer Landgemeinde.“
„Sich keine Filme mehr aus dem Internet zu saugen.“
„Schon besser. Aber das hilft uns jetzt wohl nicht weiter.“
„Das nicht, aber was Besseres fällt mir nicht ein.“
„Sich der Polizei zu stellen. Oder?“
„Was? Auf keinen Fall!“
„Genau. Deshalb. Wir müssen uns stellen.“
So philosophisch er sich auch gerne gab, diese Logik überstieg sein Vorstellungsvermögen. Irritiert schlürfte er seinen Café solo und starrte gedankenverloren halb in den Raum eines kleinen Cafés am Rande der Altstadt. Ich konnte förmlich spüren wie er nachdachte.
***
Ich dachte nach. Sich der Polizei stellen. Das wäre eine Entscheidung. Eine falsche, denn die verhaften uns bestimmt, dachte ich mir. In diesem Sinne wäre es also wirklich verkehrt. Für was dann diese ganze Flucht und was machen wir mit dem Geld? Ich konnte mir keine Antwort darauf geben. Es hatte etwas Widersinniges, sich jetzt in Granda der Polizei zu stellen. Jetzt, wo wir in Sicherheit waren. Aber es stimmt schon, in einer verkehrten Welt, sind nur die verkehrten Handlungen die richtigen, sowie der Unsinn Sinn ergibt. Es könnte funktionieren. Sie ist wirklich verdammt schlau, dachte ich mir.
„Also gut. Stellen wir uns. Ich glaube du hast recht.“
Wir gingen zur nächsten Polizeistation und erklärten den Beamten, dass wir die beiden Bankräuber von Valencia sind. Sie verstanden nicht sofort und mussten zunächst in ihrem Computer nachschauen. Für ein paar Minuten verschwanden sie hinter ihrem Bildschirm, dann blickten ihre beiden Köpfe immer wieder hervor und wieder zurück, als würden sie unsere Gesichter mit den Bildern auf ihrem elektronischen Steckbrief vergleichen.
„Señor sole y Señora noir“
„No, No sole noir es un nombre artistico – somos artistas, Escritoras… me llamo...“
„…si claro, el nombre no importa.“
Dann hob der eine Beamte seine Arme, legte die beiden Fäuste über Kreuz und lächelte.
***
Er hatte verstanden. Hier ging es nicht um Namen, sondern um zwei Verhaftungen. Die beiden legte uns Handschellen an und führten uns in ein Wartezimmer. Dann nahmen sie unsere Daten auf.
Seltsamer Weise kamen mir die beiden Beamten irgendwie bekannt vor. Ein großer schlaksiger, älterer Kerl im altmodischen grauen Sakko, den der Andere immer Inspector nannte. Das war so ein ungepflegter, kleinerer und mit einem leichten Bäuchlein ausgestatteter Schnauzbartträger in einer abgewetzten, braunen Lederjacke, den der Inspektor meist liebevoll señor colega bezeichnete. Die beide schienen irgendwie so gar nicht nach Granada zu passen, sonder eher zu einer 70er Jahre Derrick-Folge.
Nach der Datenaufnahme mussten wir wieder etwas warten, bis sie uns zum Verhör riefen. Wir gingen zusammen hinein.
Der Inspektor erklärte, dass die Sache eindeutig sei. Wir hätten die Bank ausgeraubt, hätten ein weißes Fahrzeug gestohlen und wären damit geflohen. Dann zählte er noch die Verkehrsdelikte auf, die wir auf der Flucht begangen hatten. Er schloss seine Ausführungen mit:
„Sonst noch Fragen? Wenn nicht, ist das Verhör hiermit beendet.“
„Nein“, antwortete ich.
„Wann gibt es Abendessen?“ fragte er und streichelte zur Untermalung seinen Magen. „Hunger, hungry, hambre...“ ergänzte er. Die Frage war natürlich wichtig, denn ein leerer Magen kann einen jeden noch so schönen Aufenthalt vermiesen und ein gutes Essen einen unangenehmen Aufenthalt angenehmer gestalten.
„No cena. Es gibt kein Abendessen. Wir überstellen euch nach Valencia und fahren gleich los. Dort warten sie schon auf euch. Die Bank braucht das Geld, sie ist pleite.“
Die beiden führten uns zum Auto, öffneten die Hintertüren, drückten uns auf den Rücksitz, schlossen die Türen, der Kollege stieg auf der Fahrerseite ein, der Inspektor daneben und wir fuhren los. An der Stadtgrenze zog der Inspektor seinen Strafzettelblock hervor, kritzelte etwas und überreichte uns zwei Organstrafmandate.
„Sie sind nicht angeschnallt. In Spanien ist das Pflicht. Gesetz. Macht jeweils 50,- Euro.“
Ich griff in eine der Beutesäcke. Und steckte ihm 110,- Euro zu.
„Der Rest ist für Sie,“ sagte ich lächelnd.
Er bedankte sich und steckte das Geld in seine Sakkotasche. Noch gehörte die Beute uns, dachte ich mir und umklammerte den Sack mit beiden Händen.
***
Während wir durch die Sierra Nevada fuhren, durch die breiten kargen Täler mit ihren hunderten Windrädern, den bizarren Bergtürmen und Gipfeln, dachte ich an unsere Flucht oder Reise. Die Schönheit der Welt kann ihre Hässlichkeit nicht verbergen und umgekehrt. Ying und Yang. Nur sind die Farben hier verkehrt. Dort wo Schwarz ist, ist Weiß und umgekehrt.
Die Sonne hatte ihren Zenit schon längst überschritten und warf ihre spätsommerlichen Strahlen durch die Heckscheibe, ließ sie im Rückspiegel tänzeln und uns in eine samtene Müdigkeit sinken.
Es dämmerte bereits. Wir bemerkten erst gar nicht, dass wir die Autobahn schon längst verlassen hatten und uns auf einer kleinen Landstraße bewegten, die von dutzenden Gewächshäuserplantagen gesäumt war. Durch die transparenten Seitenplanen konnten wir die Reihen von irgendwelchen grünen Pflänzchen erkennen, die an Gestellreihen empor wuchsen. Manche von den Gewächshäusern waren groß wie Fußballfelder, vor manchen standen LKWs, die gerade beladen wurden. Auf einer Gewächshausplantage saß auf der weißen Dachplane ein Vogel und blickte etwas verloren auf einen Tank, der gerade abgeladen wurde und auf dem stand „Monsanto - flower green“.
„Wohin fahren wir?“ fragte ich.
„San José“, antwortete der Inspektor, „es ist schon spät. Wir werden dort übernachten.“
Am nächsten Morgen wurden wir bei Sonnenaufgang geweckt. Sie hatten uns in ein kleines Häuschen gesperrt. Ohne Frühstück rissen sie uns aus dem Bett und ließen uns auf einem kleinen Schotterplatz, der gesäumt war von weißen Bungalows und an dessen Rand eine auf alt gemachte Windmühle stand, stehen. Ein Schild „Appartemento Molino“ war daran angebracht. Unter einem hölzernen Vordach parkte das Auto. An einem vom Schotterplatz wegführenden Weg stand das Richtungsschild – Bassina. Jetzt wurde es uns klar, sie hatten uns in einer kleinen Bungalowsiedlung untergebracht. Wir standen da und warteten. Die Handschellen drückten an den Gelenken. Schmerzen. Müdigkeit. Ein orangener Fleck, der sich über den Horizont empor streckte, entflammte einen dünnen Wolkensaum. Leichter, wärmender Wind kam auf.
***
„So fängt das Ende der Welt an“, dachte ich mir. Wie ein ganz gewöhnlicher Morgen, der plötzlich aus dem Ruder läuft. Die Vögel im Maulbeerbaum schrien und pfiffen ihr Morgenlied. „Hätten wir uns bloß nicht ergeben. Jetzt stecken wir in dieser widerlichen Landschaft fest und wer weiß, was ihnen sonst noch einfällt.“
Die beiden waren ausgepuffter, als ich dachte. Einen Moment später tauchten sie auch schon auf. Breitbeinig standen sie vor uns. Der Kleine hatte ein kurzärmliges Karotten-Mango-farbenes Haweihemd an, eine blutorangenrote Nikelsonnenbrille im Haar stecken und lässig seine Daumen in den Gürtelschlaufen seiner mangoldgrünen Stoffhose hängen. Der Große trug einen weißen Leinenanzug, ein rosa Ruderleibchen und blaue „Just do it“- Badeschlapfen. Beide mit einem dezenten Zahncremebart um den Mundwinkel.
„Scheiße, das sind echte Profis“, dachte ich mir. „Die machen uns fertig.“
Wiederum stießen sie uns ins Auto und knallten die Türen zu.
„Wohin bringt ihr uns? Wir müssen doch noch zahlen, oder? Und ich, ich muss mich noch einschmieren. Die Sonne ist hier auch noch im September sehr gefährlich. Ihr wollt doch nicht, dass wir hier an Hautkrebs sterben, oder?“
Sie gaben keine Antwort. Wir fuhren aus dem Gelände der kleinen Feriensiedlung. Plötzlich bremsten sie. Ein Chamäleon querte die Schotterstraße.
„Wir bremsen auch für Tiere“, meinte der Kleine und ich sah sein hämisches Grinsen im Rückspiegel. „Verdammt, was haben die nur vor,“ dachte ich mir, als ich bemerkte, dass wir gar nicht mehr Richtung Autobahn zurück fuhren, sondern nach links, zum Meer.
Auf sie schien das keinen Eindruck zu machen. Sie war eingeschlafen. Das war sie auch schon vorhin, als wir am Parkplatz standen. Es war einfach noch nicht ihre Zeit.
Wir bretterten die Landstraße entlang, durch einen Kreisverkehr, auch das Ortsschild San José mit Hinweis auf Tempo 30 berührte sie kaum. Parkende Autos vor den dutzenden weißen niederen Appartementhäuser säumten die Straße. Ein weiteres Schild Playa „...“ . Drei Kilometer. Wir folgten dem Schild. Die Straße schmiegte sich an den Hang und schlängelte sich aus der Ortschaft. Ich sah die Bucht von San José mit ihrem kleinen Strand und den in die Hänge gebauten Häusern und Hotels. Alles schien noch zu schlafen. So wie sie neben mir.
Dann fuhren wir auf einer breiten, rotbraunen Schotterstraße, die sich gerade durch die ausgedörrte Landschaft mit ihren meterhohen Agaven-Skeletten zog. Nach ein paar Minuten parkten wir vor einer offenen Bucht, die links von Sandbergen, rechts von kahlen felsigen Hügeln und mittig von einer Landschaft, die einem das Gefühl gab, am Rand einer Wüste zu sein, umgeben war. Am Ende, hinter dem weitläufigen Strand, lag ein in der Sonne glänzendes Meer.
Es war grauenhaft. Ich befürchtete Schlimmstes. Und so kam es auch.
„Kommt ihr beiden. Jetzt machen wir mal Badeurlaub. So, schön mit Sonnencreme einschmieren, hier eine Kühlbox, Badetaschen, Sonnenschirm, Badetücher und hier unterhaltsame Strandlektüre. Ihr mögt doch Krimis?“
Abschließend klatschten sie uns noch zwei Strohhüte auf den Kopf.
„Los, gehen wir.“
***
Als ich aufwachte, bemerkte ich erst was passiert war. Er und ich sahen aus wie ein achtziger Jahre Caorle-Urlaubspärchen, er mit Kühlbox in der Hand, ich mit Sonnenschirm unterm Arm. Mein Leibchen war vorne am Bauch zusammengeknotet und aus meiner Strandtasche ragte eine Frauenzeitschrift. Mir wurde übel. Ihm erging es in seiner Schmetterlingsbadehose, dessen Bändchen sein Bäuchlein sorgfältig in seinen Falten vergrub, auch nicht besser. Seine roter Kopf ragte wie eine Boje aus seinem ansonsten fahlen weißen Körper. Wir blickten einander an, dann nach vorn. Es war klar. Da mussten wir nun durch.
Minutenlang stapften wir durch erdigen Sand, der mit grünem Geflecht überwachsenwar, wie Gras nur zäher und fetter, dann wurde der Untergrund immer weicher, Sand, vereinzelte Grasbüschel, schließlich nur mehr Sand mit tausenden von messerscharfen Muschelsplittern. Sie trieben uns vor bis zum Wasser. Dann sahen wir, dass es hinter dem felsigen Gebilde mit seinen Höhlen und Vorsprüngen noch einen Weg zu einer weiteren kleinen Bucht gab. Wir bogen dort ein. Die beiden Cops stapften hinter uns her. An eine Flucht war nicht zu denken. Chancenlos.
„Dort hinten, bei der Felsnische. Dort legt euch hin.“
Als wir alles ausgepackt und ausgebreitet hatten, legten wir uns hin. Ich schnappte mir die Frauenzeitschrift, stellte meinen Sangria mit Sonnenschirmchen im Schatten ab. Er öffnete das erste Bier, es war ein Radler, nahm den Krimi zur Hand und schob sein aufblasbares Kopfkissen unter den Kopf.
***
Ich hatte eben meinen Radler geöffnet, da tauchte plötzlich ein Schatten über uns auf. Der Inspektor hatte sich vor uns aufgebaut und blickte uns ernst an.
„Nun hört mir einmal gut zu. Ihr beiden Möchtegern Bonnie und Clyde. Das hier ist kein Spaß. Versteht ihr? Wir sind hier nicht auf Sommerfrische. Wir wollen, dass ihr den ganzen Vormittag und Nachmittag so liegen bleibt. Verstanden? Wenn der Kollege euch ein Zeichen gibt, dann läuft ihr ins Wasser. Verstanden. Wellenspringen, toter Mann und solche Sachen. Ist das klar?“
Der Kleine nickte, als wäre die Frage an ihn gerichtet, zögerte kurz, sah zum Inspektor und übernahm dann die weiteren Ausführungen.
„Ich mache das Zeichen aber nur einmal. Claro? Ich ruf el mar und ihr geht dann verdammt nochmal ins Wasser, wenn ihr wisst, was ich meine. Und wenn ich sage playa geht ihr wieder zurück und legt euch wieder genau hierher. Und keinen Badesachenwechsel! Die Badehose soll euch auf der Haut trocknen.“
Beide lachten als wären sie eben aus der Hölle gefahren und darüber enttäuscht dort nicht genug Grausamkeit erlebt zu haben.
„Verstanden. Alles Claro. No Problemo“, rief ich verzweifelt, vergrub mein Gesicht hinter dem Krimi und versucht weiter zu lesen. Plötzlich hörte ich neben mir einen gleichmäßigen ruhigen Atem. Vorsichtig blickte ich zur Seite. Sie war eingeschlafen. Hoffentlich hört sie das Zeichen, dachte ich mir und nahm einen Schluck vom Radler.
Der Vormittag verlief recht gut. Zwei Mal mussten wir ins Wasser und in den Wellen herum toben. Es war warm und die Strömung um einiges stärker als zu Hause auf der Donauinsel. Mittags aßen wir Couscous-Salat, zwei Tomaten und eine Gurke und als Nachspeise Apfel und Joghurt.
Am Nachmittag hörte ich sie flüstern.
„Hey. Was meinst du? Wie verkehrt ist eine verkehrte Welt wirklich?“
„Ich versteh nicht, was du damit meinst“, antwortete ich.
„Ich mein, wie verkehrt ist die Welt wohl für die beiden?“
„Keine Ahnung. Wahrscheinlich ist sie für sie gar nicht verkehrt.“
„Vielleicht wollen sie uns das aber nur glauben lassen.“
„Du meinst, dass auch sie in einer verkehrten Welt leben? Aber was wäre dann die richtige?“
„Das ist nicht die Frage. Die Frage ist, ist es dieselbe.“
„Wie meinst du das?“
***
„Hey Sie beide da!“
„Was ist?“ antwortete der Kollege, „hast du die Frauenzeitschrift schon ausgelesen?“ und lachte.
„Ich habe eine Frage. Weil mein Freund meinte, dass die Schiffe hier am Meer fahren und nicht im Himmel.“
„So ein Blödsinn. Sag deinem Freund, nur weil der Himmel ebenso blau ist wie das Meer, fahren die Schiffe noch lange nicht am Meer.“
Dann kam der Inspektor auf uns zu und beugte sich bedrohlich über uns: „Und sag deinem Freund Schlaumeier, er soll aufhören sich mit philosophischen Gedanken über unsere Himmelsschifffahrt herumzuschlagen. Er soll lieber seinen Krimi lesen. Das Denken überlasst nur uns.“
„Das habe ich ihm auch gesagt, aber ich frage, weil ich mir Sorgen mache, dass er nicht mehr richtig sehen kann. Dass er die Welt nicht mehr erkennt, wie sie ist. Und da ich ja nicht wissen kann, ob ich mich ebenso irre, hab ich mir gedacht, die Einzigen, die es wirklich erkennen könnten, seid ihr. Oder?“
„Wir erkennen die Welt, auch wenn wir nicht hinschauen. Stimm‘s Herr Kollege?“
„Aber natürlich. Ich erkenne sie blind.“
„Wenn ich nun fragen darf, Herr Inspektor. Was sehen Sie?“
Er lächelte, breitete die Arme aus. „Was ich sehe? Ganz einfache. Die Schönheit der Welt. Wie wohl sie geordnet ist: Links der Himmel, in der Mitte das Meer und rechts der Strand. Was sonst?“
Der Kollege schob nun seinen Sonnenbrille wieder nach oben. „Herr Inspektor, verzeihen Sie, ich widerspreche nur ungern, aber ich glaube, Sie irrten sich gerade. Die Ordnung ist gerade umgekehrt. Rechts der Himmel, in der Mitte das Meer und links der Strand. Sie müssen sich verschaut haben.“
„Herr Kollege, ich habe mich noch nie verschaut. Machen sie doch Ihre Augen auf. Es ist eindeutig so, wie ich es gesagt habe.“
Die beiden gerieten sich richtig in die Haare. Jeder warf dem anderen vor die Welt verkehrt zu sehen. Schlussendlich gelang es uns sie zu überwältigen, wir erklärten ihnen, dass wir, wenn sie sich nicht einig werden, annehmen müssen, dass sie beide die richtige Welt verkehrt sehen und deshalb auch gar keine Polizisten sein können. Diese Logik war für sie buchstäblich entwaffnend. Sie ergaben sich.
Wir zogen ihnen die Badesachen an, legten ihnen die Handschellen an und ließen sie noch bis in den Abend hinein am Strand liegen. Der Inspektor bekam eine Autozeitschrift und sein Kollege ein Rätselheft. Als die Sonne unter gegangen war, packten wir sie auf den Rücksitz und fuhren los. Zurück nach Valencia.
Denn es war klar. In eine verkehrten Welt ist auch das Verkehrte verkehrt.
Und wie es in einer solchen Welt wirklich aussieht?
Oben der Strand, in der Mitte das Meer und unten der Himmel. Wie sonst.
Als wir auf die Autobahn Richtung Valencia auffuhren, sangen wir dem Inspektor und seinem Kollegen das Lied von der verkehrten Welt vor.
In diesem Lied geht es um ein gutes Wölfchen, das von Schafen malträtiert wird, um einen bösartigen Prinzen, eine wunderschöne Hexe und einen ehrlichen Piraten. Vor allem aber geht es darum, dass es all diese Dinge einmal gab, als wir von einer verkehrten Welt träumten.
Dass derartig verkehrte Lieder nicht gut ankommen in einer Welt, in der die Verkehrten an der Macht sind, versteht sich von selbst: Das von Paco Ibáñez gesungene Kinderlied war während der Franco-Diktatur verboten.